Boys Don’t Cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit – Rezension

Im März war ich bei einer Lesung aus Jack Urwins Buch „Boys Don’t Cry – Identität, Gefühl und Männlichkeit“. Beworben wird die deutsche Übersetzung unter anderem mit folgender Aussage der ungeachtet ihrer Unterstützung für eine antisemitische Boykottbewegung in Deutschland sehr beliebten britischen Feministin Laurie Penny: „Hier ist es endlich, das brillante, persönliche, nicht-einmal-sexistische Buch des Jahrtausends über Männlichkeit und Politik, auf das die Welt gewartet hat.“ Die Erwartungen sind hoch. Über 200 Menschen sind gekommen. Und die meisten von ihnen gehen nach der Veranstaltung enttäuscht nach Hause. Ich habe an diesem Abend einen anstrengenden Tag mit beiden Kindern hinter mir und bin deshalb im Anschluss etwas zu müde für eine differenzierte Kritik. Mittlerweile habe ich aber auch das Buch gelesen und versuche mich nun an einer ausführlicheren Beurteilung.

Urwin erzählt im Buch von seinem Vater. Dieser verheimlicht seine Herzprobleme vor der ganzen Familie, geht nicht zum Arzt und bricht daraufhin tot im Badezimmer zusammen. Urwin analysiert detailliert und beeindruckend wie ein bestimmtes Verständnis von Männlichkeit verhindert, dass sich sein Vater Hilfe sucht und es ihm unmöglich macht, über die eigenen Befindlichkeiten zu reden. Er zeigt, wie dieses Verständnis von Männlichkeit seinen Vater das Leben kostet und dazu führt, dass er selbst ohne Vater aufwachsen muss. Weiter beschreibt Urwin wie es auch ihm selbst lange schwer fällt, in seiner Liebesbeziehungen über Gefühle zu reden und dies nur durch den großen Einsatz seiner Partnerin langsam lernt.

Im Buch versucht sich Urwin auch an einer historischen Abhandlung zum Thema Männlichkeit. Dass diese eher an der Oberfläche bleibt, ist vielleicht gar kein grundsätzliches Problem. Das Buch ist dadurch einfach zu lesen und wenig voraussetzungsvoll. Ärgerlich sind die inhaltlichen Fehler. Urwin schreibt beispielsweise: „Bis vor 10.000 Jahren lebten die Menschen als Jäger und Sammler, und ihre Rollen wurden allein durch die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen definiert. Frauen kümmerten sich um die Kinder und suchten nach Nahrung, während die körperlich größeren und stärkeren Männer mit der Jagd betraut waren.“ Für eine solche von Urwin behauptete Eindeutigkeit der Rollenverteilung in der Urzeit gibt es keine wissenschaftlichen Hinweise.

Interessant sind Urwins Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Militär und Männlichkeit. Erfreulicherweise geht es im Buch auch nicht ausschließlich nur um heterosexuelle Cis-Männer. Die Ausführungen zum Thema Sex sind mir ebenfalls positiv aufgefallen. Urwin verfolgt und zitiert aktuelle feministische Diskussionen um Consent und Rape Culture und bezieht dazu reflektierte Positionen. Auch seine Kritik an Männerrechtsaktivisten ist glücklicherweise eindeutig: „Das Problem mit Männerrechtsaktivisten ist, dass sie weniger darum bemüht sind, Männern zu helfen, als darum, Frauen zu schaden.“ (S. 174)

Urwin spricht immer wieder von der für ihn problematischen „toxischen Männlichkeit“ und stellt diese einer wünschenswerten „echten“ Männlichkeit gegenüber: „An diesem Punkt solltet ihr eigentlich mit der grundlegenden Definition von toxischer Männlichkeit vertraut sein: übertriebenes Verhalten, das darauf abzielt, noch männlicher zu erscheinen, gewöhnlich motiviert durch Unsicherheit und im Allgemeinen weit entfernt vom positiven, echten Ausdruck von Männlichkeit, die es zu imitieren sucht. Wenn Männer sich entmannt fühlen, reagieren sie darauf, indem sie sich an alles klammern, was sie irgendwie als männlich empfinden.“ (S. 147) Mir geht das nicht weit genug. Klar, laute und prügelnde Männer sind besonders nervig, aber werden sie durch die Norm einer „echten“ Männlichkeit überhaupt erst hervor gebracht. Eine Kritik müsste sich also auch differenzierter gegen diejenigen Aspekte von Männlichkeit richten, die von Urwin als „positiv“ beschrieben werden.

Im Vorhinein hatte ich Angst, dass Urwin das Buch geschrieben hat, das ich eigentlich irgendwann einmal über Männlichkeit schreiben möchte. Boys Don’t Cry ist eine Grundlage für weitere Überlegungen, es geht weiter als viele andere Bücher zum Thema, das „Buch des Jahrtausends über Männlichkeit“ (Laurie Penny) ist es jedoch nicht. Dafür beschränken sich Urwins persönliche Reflexionen auf zu wenige Lebensbereiche. Gedanken zu eigener Vaterschaft oder Care-Arbeit fehlen beispielsweise völlig, genauso wie eine tiefergehende Analyse und Kritik an Männlichkeit über ein paar vergleichsweise offensichtliche Probleme hinaus.

Urwin, Jack: Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit, Edition Nautilus, Hamburg 2017

5 Antworten

  1. Danke für die Rezension! Traurig und interessant ist ja auch, dass alle Aussagen des Buches schon vorher mindestens einmal von Frauen* getätigt wurden. Er selbst sagt das auch. Durch das Buch lassen sich vielleicht Leute erreichen, die sonst wenig mit kritischer Männlichkeit anfangen können. Gleichzeitig profitiert er aber auch einfach davon, dass er ein Mann ist und Erkenntnisse einfach wiederholt. Dafür wird sein Buch dann gefeiert…

  2. Ich bin dann gespannt auf dein Buch zur Männlichkeit, das dann vielleicht das Männlichkeitsbuch des Jahrtausends wird!

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