Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung – Rezension
Im Kontext der jüngeren Geschichte meiner Familie spielen Schwangerschaftsabbrüche eine wichtige Rolle. Ohne das lange und hart erkämpfte Recht, unter bestimmten Bedingungen straffrei einen Abbruch durchführen lassen zu können, würde meine Familie heute nicht so aussehen, wie sie aussieht. Mit ziemlicher Sicherheit würde es weder Fritzi noch Lynn geben, weil es jeweils im Vorfeld in anderen Konstellationen zu ungewollten Schwangerschaften kam. Nicht nur aufgrund der konkreten Abbrüche in meiner Familie, finde ich es wichtig, dass eine schwangere Person die Möglichkeit hat, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie in dieser konkreten Situation, in dieser konkreten Konstellation, unter diesen konkreten Lebensumständen eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht.
In ihrem Buch „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ beschreibt Kirsten Achtelik, dass diese Selbstbestimmung jedoch nicht unabhängig von gesellschaftlichen Normen und Rahmenbedingungen betrachtet werden kann. Sie stellt detailliert die Geschichte, Verflechtungen und Gegensätze von feministischer und Behindertenbewegung dar und fordert, die Anliegen beider Gruppen nicht gegeneinander auszuspielen. Sie kritisiert den zunehmenden Einsatz von Pränataldiagnostik und den daraus resultierenden Druck auf Schwangere, sich im Falle eines auffälligen Befunds entscheiden und noch dazu diese Entscheidung im Kontext einer behindertenfeindlichen Gesellschaft treffen zu müssen.
Über ihre Intention schreibt Achtelik: „[Der Text] will Frauen* nicht ihre Entscheidungsfähigkeit absprechen, sondern dazu beitragen, dass aus gewollten Schwangerschaften auch gewollte Kinder werden können und sich diese nicht nach auffälligen pränatalen Untersuchungsergebnissen in geschädigte Föten verwandeln.“ (S. 13)
Im Rahmen von beiden Schwangerschaften war ich mit den jeweiligen werdenden Müttern meiner zu diesem Zeitpunkt noch nicht geborenen Kinder bei der sogenannten feindiagnostischen Untersuchung um die 20. Schwangerschaftswoche. In beiden Fällen waren die Untersuchungen für mich eher unreflektiertes „Babyfernsehen“. Zu Recht findet mein Buch Fritzi und ich deshalb bei Achtelik in einer Fußnote Erwähnung als Beispiel für einen kritiklosen Umgang mit Pränataldiagnostik und als Teil einer Entwicklung, die Pränataldiagnostik weiter etabliert, ohne dass eigentlich klar ist, was sich die werdenden Eltern eigentlich genau von einer solchen Untersuchung versprechen. Ich fühle mich durchaus von ihrer Analyse angesprochen, wenn sie schreibt: „Gefahren wie ein Scheitern der Partnerschaft, die Befürchtung, möglicherweise keine gute Mutter zu werden oder das Baby gar nicht zu mögen, oder andere Zukunftsängste, deren Artikulation nicht legitim ist, können durch die Sorge um den Zustand des Fötus ausgeblendet werden.“ (S. 137)
Achtelik kritisiert die Behindertenfeindlichkeit der Gesellschaft, in der Behinderung vor allem als persönliches und individuelles Problem Einzelner wahrgenommen und überwiegend mit Leid und Schmerz in Verbindung gebracht wird. „Für die allermeisten Behinderten gehört ihre Beeinträchtigung jedoch zu ihrem Selbstkonzept und Alltag dazu und wird nicht als ständig störender Verlust empfunden.“ (S. 142) Vielmehr sind es die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die für Behinderte zum Problem werden und zur Einschränkung der Lebensqualität führen können. Statt Abweichungen mit allen zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten verhindern zu wollen, plädiert Achtelik für eine Gesellschaft, „in der Normalität keinen erstrebenswerten Zustand darstellt.“ (S. 191)
Ein gesellschaftlicher Druck zur Normalität wird an vielen Stellen deutlich und begegnet auch mir. Ich finde es wichtig, dem immer wieder zu widersprechen. Mehr noch als bisher muss Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe angesehen werden. Ohne individuelle Voraussetzungen und Bedürfnisse nivellieren zu wollen, sind wir grundsätzlich alle im Laufe unseres Lebens auf Unterstützung durch und Kooperation mit anderen angewiesen. Menschen sind unterschiedlich und genau in dieser Diversität besteht der Wert unserer Gesellschaft.
Neben der Forderung einer „wirklich inklusiven Gesellschaft“ formuliert Achtelik auch konkretere Ziele. So gelte es die Ausweitung der Pränataldiagnostik zu problematisieren, der Praxis selektiver Schwangerschaftsabbrüche entgegenzuwirken und gleichzeitig weiterhin für die Streichung der §§ 218/219 einzutreten. Achtelik fasst zusammen: „Die Position ist auf die einfache Formel zu bringen, dass eine Frau* die Möglichkeiten haben muss, eine Schwangerschaft, die sie nicht will, abzubrechen. Ist eine Schwangerschaft aber angenommen, kann das angenommene >Kind< nicht wieder >zurückgegeben< werden.“ (S. 196)
Ich habe das Buch mit großem Gewinn gelesen. Für zukünftige Debatten ist es unerlässlich, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzudenken. Über die angesprochenen Aspekte hinaus interessiert mich immer die Rolle der (potenziellen) Väter, die ihre Entscheidung schon jeweils vor dem Sex getroffen haben müssen. Ich muss vor jedem Sex bereit sein, jegliche Konsequenzen (mit-) zu tragen, aber das ist vielleicht an anderer Stelle noch einmal eine genauere Betrachtung wert.
Achtelik, Kirsten: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnosik, Abtreibung. Verbrecher Verlag Berlin 2015
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