Der goldene Zaunpfahl oder „Baby, Baby, ich hab Genderwahn“


Am Freitagabend war ich mit dem großen Kind im HAU bei der Verleihung des goldenen Zaunpfahls. Die Initiator_innen Anke Domscheit-Berg, Almut Schnerring und Sascha Verlan wollen den Negativpreis in Zukunft jährlich „für absurde Auswüchse des Gendermarketing“ vergeben. Gewonnen haben in diesem Jahr Geschichten zum Lesenlernen für Jungen und Mädchen. „Sie vermitteln klischeehafte Inhalte und schließen Mädchen aus dem Abenteuer-Weltall-Bereich aus. Und sie geben Jungs keine Chance, sich für Tiere und Back-Partys zu interessieren“, formuliert Ferda Ataman in ihrer Laudatio.

Ich finde das Engagement gegen diese einengenden Rollenzuschreibungen in der Werbung oder beispielsweise in den prämierten Büchern sehr wichtig. Ich stimme Antje Schrupp in ihrer Analyse uneingeschänkt zu: „Indem wir Gendermarketing tolerieren, zementieren wir Rollen, behindern wir Kinder in ihrer freien Entfaltung. Wir machen es ihnen schwer, zu ihren eigenen, individuellen Vorlieben und Stärken zu finden, indem wir sie schon als Babys darauf trimmen, dass sie als Mädchen dies und als Jungen das zu wollen hätten.“

Die Verleihung wurde erfreulicherweise breit in den Medien besprochen. Ein paar Gedanken bzw. Aspekte, die ich an dem Abend problematisch fand, möchte ich hier noch ergänzen und ausführen.

Früher war nicht alles besser

Ich teile die bei der Veranstaltung mehrfach wiederholte Auffassung „wir waren schon mal weiter“ nicht. „Die Drei Fragezeichen gab es früher für Kinder.“ Heute gebe es die Drei Fragezeichen für Jungs und die Drei Ausrufezeichen für Mädchen. Dass es früher nur um Jungs gegangen sei, sei für ihre eigene Phantasie kein Problem gewesen, sagt Ferda Ataman in ihrer Rede. Ich sehe es sehr wohl als Problem, dass Mädchen und andere geschlechtliche Identitäten in den meisten Geschichten einfach nicht vorkamen bzw. noch immer nicht vorkommen.

Auch Lego wurde wieder einmal als „Paradebeispiel“ für Gendermarketing benannt. Das Legouniversum war früher jedoch kein geschlechtsloses Paradies, sondern genauso wie die Reihe der Drei Fragezeichen eine (fast) ausschließlich von Männern bevölkerte Welt. Eine vermeintliche Geschlechterneutralität bei Lego und den Drei Fragezeichen wurde nicht erst durch die Lego-Friends-Produktreihe bzw. die Drei Ausrufezeichen zerstört. Sie war nie da. Analog wird auch das generische Maskulinum in der Sprache nicht erst seit Unterstrich und Sternchen (als vermeintliche Herauslösung der weiblichen Form aus einer ehemals neutralen Formulierung) mehrheitlich männlich verstanden, sondern hat schon immer Mädchen, Frauen und andere Geschlechter unsichtbar gemacht.

Statt eine vermeintlich geschlechtslose Vergangenheit zu glorifizieren und zu verklären, wäre es wichtiger zu hinterfragen, warum Jungen weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart Geschichten und Produktreihen zugemutet werden, in denen es nicht ausschließlich um (Cis-)Männer und Jungen geht und weibliche, trans* oder andere nicht-männliche Akteur_innen nicht einfach wie selbstverständlich überall vorkommen dürfen, sondern für diese Gruppen eigene Produktreihen erfunden werden müssen.

2 Gruppen

Almut Schnerring erklärt im Laufe der Veranstaltung, wie sich Identitäten innerhalb von Gruppen bilden. Durch den Saal wird ein Baustellenabsperrband gezogen, das das Publikum willkürlich in zwei Gruppen teilen soll. Es geht in ihrem kurzen Vortrag um die Entwicklung eines „Wir-Gefühls“ in der „Eigengruppe“ und um Abgrenzung gegenüber der „Fremdgruppe“ und darum, wie sich auch Interessen und Bedürfnisse anhand der eigenen Gruppenzugehörigkeit orientieren.

Fast entsteht der Eindruck, Geschlechter seien erst durch die Werbeindustrie erfunden worden, um Interessen und Bedürfnisse gezielt erzeugen und ansprechen zu können. Auch wenn es so wahrscheinlich nicht gemeint war, ist mir die Theorie der zwei Gruppen zu einfach. Vergessen wird die historische Dimension ebenso wie das zugrunde liegende Machtverhältnis.

Geschlechtliche Rollenzuschreibungen engen grundsätzlich die Handlungsmöglichkeiten aller Geschlechter ein. Jedoch nicht auf die gleiche Art und Weise und nicht mit den gleichen Auswirkungen. Differenzierungen haben an diesem Abend jedoch keinen Raum. Statt um Sexismus und Macht geht es letztendlich nur noch um „Stereotype“ über zwei vermeintlich willkürliche Gruppen.

Abwertung von Weiblichkeit

Vielmehr reiht sich diese Kritik am Gendermarketing ein in eine gesellschaftlich überall präsente starke Abwertung von Eigenschaften, Farben und Interessen, die mit Weiblichkeit konnotiert sind. Bei der Veranstaltung wird abfällig über „Quietschrosa“, „niedlich sein“, „Stupsnäschen haben“, „es sich schön einrichten“ und Delfine gesprochen. Ein rosa Werkzeugkoffer wird vom gesamten Publikum belächelt.

Den peinlichen Höhepunkt erreicht der Abend mit dem Auftritt von Daniel Bröckerhoff, einem ZDF-Moderatoren und Jurymitglied des goldenen Zaunpfahls. Erst erklärt er, dass er zuhause nie koche, weil ihm das einfach keinen Spaß mache. Seine Frau koche immer. Sie tue dies zwar ebenso ungern, aber ihr sei es wichtiger, dass die Kinder auch mal was Ordentliches zu essen bekommen. Gegen solche persönlichen Vorlieben ist natürlich nichts auszurichten. Wenn es Vätern einfach nicht so wichtig ist, was die Kinder essen, was kann man(n) dann gegen Geschlechterklischees ausrichten? Und überhaupt: Niemand sei doch frei von Geschlechterrollen, oder?, fragt er provozierend ins Publikum.

Dann stellt Bröckerhoff noch seine Tochter bloß, indem er sie bittet, ihm ihre Tasche auf die Bühne zu bringen. Sie ist lila und mit Delfinen bedruckt. Er hält sie schuldbewusst hoch. Nicht in seinen Herrenschuhen, seiner Herrenhose, seinem Herrenhemd, nicht in seiner männlichen Kochverweigerung, nicht in seinem männlichen Auftreten auf der Bühne liegen seiner Ansicht nach die Probleme des Geschlechterverhältnisses und die negativen Auswirkungen des Gendermarketings, sondern natürlich in der lila Tasche seiner Tochter.

Ironie ist noch keine Dekonstruktion

„Männer backen anders. Männer backen mit Hackfleisch. Na, wie denn sonst?“, sagt Sascha Verlan auf der Bühne mit Blick auf eine Werbung für das Männermagazin Beef, so als sei allein durch die ironische Wiederholung des Werbeslogans bereits alles gesagt. Der von mir sehr geschätzte Tarik spricht ironisch von „meiner Freundin Beatrix von Storch von der AfD“. Suli Puschban fordert während ihres Songs im Mario-Barth-Stil erst die Frauen im Publikum auf, den Refrain mit ihren lieblichen Stimmen mitzusingen und danach die Männer mit ihren tiefen, kraftvollen Stimmen.

Das Kind auf dem Sitz neben mir zuckt während der Veranstaltung mehrfach zusammen. Immer wieder muss ich ihr erklären, dass das alles nicht so gemeint ist bzw. dass eigentlich das Gegenteil gemeint ist. Mehrfach wird am Abend darauf hingewiesen, wie schutzlos Kinder dem Gendermarketing ausgeliefert sind. Auf dem Weg nach Hause frage ich mich, was meine Tochter von diesem Abend mitnimmt.

So sehr ich das grundsätzliche Anliegen der Veranstaltung teile und das Engagement der Initiator_innen schätze, so sehr hadere ich mit der Umsetzung.

8 Antworten

  1. Zesyra sagt:

    Mein größtes Problem mit der Veranstaltung war tatsächlich der von dir genannte Bröckerhoff Auftritt. Furchtbar.
    Bei dem Rest hatte ich die Schwierigkeit, dass es für Menschen die sehr im Thema stehen nicht viel Neues gab & für Menschen denen das Thema eher fremd ist war es zu Wissensvoraussetzungs-lastig.
    Ich glaube den Spagat zu schaffen zwischen einem (akademisch) vorgebildeten Publikum und einer breiten Öffentlichkeit die sich darüber „einfach nie Gedanken gemacht hat“, weil: „is halt so“ ist unheimlich schwierig. Ich wage zu behaupten, dass eine für uns „perfekte“ Vorstellung nicht die gleiche Öffentlichwirksamkeit erreicht hätte.
    Die Differenzierung die du forderst kann glaube ich in so einer Veranstaltung nicht passieren (vielleicht in ein paar Jahrzehnten).
    Wer in einer Welt mit zwei Geschlechtern lebt in der Männlichkeit das Wahre und Gute, Weiblichkeit lediglich das Schöne ist, der*m kann mensch halt nicht gleich mit der vollen Bandbreite gendertheoretische Diskurse begegnen.

    P.S.: Dein großes Kind ist ganz wundervoll (& ich fands bezaubernd, dass es meinem Kind das Treppenhüpfen zeigte. In Folge vebrachten wir [vor allem mein Mann] einen Großteil der Veranstaltung und die Zeit die wir eigentlich auf dem Weg zur Bahn sein wollten mit Treppe hüpfen :D)

    • Jochen sagt:

      Danke für deinen Kommentar.
      Ja, ich denke auch, dass die Veranstaltung unter anderem deshalb so erfolgreich war, weil die Abwertung von Weiblichkeit so anschlussfähig an einen ähnlichen öffentlichen Diskurs ist. Zumindest in diesem Punkt denke ich aber, dass das nicht einfach ein notwendiger Kompromiss sein darf, sondern kontraproduktiv ist und die falsche Richtung stärkt.

      Wünsche euch weiterhin viel Spaß beim gemeinsamen Treppenhüpfen!

      • Zesyra sagt:

        Das was als „weiblich“ gilt abzuwerten, aber auch es als abgewertet wahrzunehmen hat ja lange Tradition. Stimme dir zu, dass Abwertung (in keiner Form) ein Kompromiss sein sollte, finde es aber auch enorm schwierig da den richtigen Ton zu treffen. Denke vor allem auch, dass das auf gar keinen Fall eine Intention war.

        • Jochen sagt:

          Ich glaube auch nicht, dass es die Intention war. Aber ich glaube, dass es zwangsläufig mit drin steckt, wenn man Machtverhältnisse bei der Analyse außen vor lässt. Und ja, ich glaube auch, dass es schwierig ist, den richtigen Ton zu treffen. Auch wenn ich in meinem Text vor allem meine Kritik ausführe, hoffe ich, dass auch deutlich wird, dass ich das Engagement wertschätze und mich durchaus kritisch-konstruktiv und nicht destruktiv darauf beziehen möchte.

  2. dasnuf sagt:

    Danke für Deine Worte zum Auftritt von Bröckerhoff. Ich hab mich so geschämt, nicht einfach reingerufen zu haben: „Delfintaschen sind geil. Delfintaschen sind nicht das Problem.“

    Naja und die Szene mit dem Kochen… unfassbar.

  3. ich habe die veranstaltung über twitter mitbekommen. also, dass sie war und fetzen davon, was war. momentan macht mich das thema nur mehr traurig. nicht einmal mehr wütend. einfach nur traurig. weil ich das gefühl habe, dass es viel engagement gibt, aber ich auch immer mehr das gefühl habe, dass dieses engagement fehl geht. danke also sehr für deine kritischen anmerkungen dazu. ich merke an meinem kind, was es mit ihm macht, dass bestimmte vorlieben vom umfeld abgewertet werden. und es ist nichts gutes.

  4. Ohje, deine Beschreibung des Abends hinterlässt mich etwas mutlos…

    Trotzdem Danke für den Einblick, ich würde mir wünschen, dass eine*r von den Beteiligten deinen Text liest und sich zumindest mal kurz an den Kopf fasst.

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