Für das Leben
Jedes Jahr im September demonstrieren christliche Fundamentalist_innen, AfD-Politiker_innen und andere selbsternannte „Lebensschützer_innen“ in Berlin gegen Abtreibungen. Wie so oft in den letzten Jahren werde ich auch morgen gegen diesen sogenannten „Marsch für das Leben“ demonstrieren.
Zwei Mal in meinem Leben führte Sex, an dem ich beteiligt war, bisher zu ungewollten Schwangerschaften. Zwei Mal musste sich jeweils eine schwangere Person wegen mir für oder gegen einen Abbruch entscheiden. Die Entscheidungen sind in beiden Fällen unterschiedlich ausgefallen, ich war an beiden Entscheidungen beteiligt und ich bin sehr glücklich mit beiden Entscheidungen. Eine Entscheidung für einen Abbruch ist nicht immer eine einfache Entscheidung, aber sie führt auch nicht, wie oftmals von konservativer Seite behauptet wird, zwangsläufig zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Im Gegenteil: Der Abbruch hat für uns beide erst unsere jeweiligen gewünschten Familienkonstellationen ermöglicht und es geht uns beiden damit sehr gut. Sehr gut gefallen hat mir dazu in den letzten Tagen auch der Text „Seitdem geht es mir gut“
In einem anderen Text hier auf diesem Blog habe ich bereits geschrieben:
„Im Kontext der jüngeren Geschichte meiner Familie spielen Schwangerschaftsabbrüche eine wichtige Rolle. Ohne das lange und hart erkämpfte Recht, unter bestimmten Bedingungen straffrei einen Abbruch durchführen lassen zu können, würde meine Familie heute nicht so aussehen, wie sie aussieht. Mit ziemlicher Sicherheit würde es weder Fritzi noch Lynn geben, weil es jeweils im Vorfeld in anderen Konstellationen zu ungewollten Schwangerschaften kam. Nicht nur aufgrund der konkreten Abbrüche in meiner Familie, finde ich es wichtig, dass eine schwangere Person die Möglichkeit hat, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie in dieser konkreten Situation, in dieser konkreten Konstellation, unter diesen konkreten Lebensumständen eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht.“
Dem sogenannten „Marsch für das Leben“ geht es, anders als behauptet wird, nicht um den Schutz von Kindern. Es geht dem „Marsch für das Leben“ um die Bevormundung von Schwangeren und um eine konservative, repressive und lustfeindliche Sexualmoral. Mitmarschieren werden neben Initiator Martin Lohmann, der meiner Familie im Fernsehen vorwarf „nicht wirklich“ Familie zu sein, viele andere Personen, die in diversen Kampagnen beispielsweise gegen Aufklärungsunterricht oder die Thematisierung von Vielfalt an Schulen agitieren und für eine vermeintliche Normalität kämpfen, die so nie existiert hat, die viele real existierende Familien nicht berücksichtigt und unter der viele Familien tagtäglich leiden.
In meinem Buch „Mama, Papa, Kind?“ habe ich folgenden Absatz geschrieben:
„Es gibt keine eindeutigen Statistiken darüber, ob ein Verbot die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in einem Land verringert. Aber es erhöht die Zahl der Frauen, die infolge eines Abbruchs sterben. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass jährlich etwa 22 Millionen illegale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, 47.000 Frauen kamen im Jahr 2008 durch unsichere illegale Abbrüche ums Leben. Die Staaten mit den liberalsten gesetzlichen Regelungen in Nordamerika und Westeuropa sind trotz des weitgehend straffreien Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen weltweit die Staaten mit der geringsten Rate an Abbrüchen und die mit der geringsten Zahl an Todesfällen durch unsicher vorgenommene Abbrüche.“
Wer „für das Leben“ demonstrieren möchte, muss morgen also gegen den „Marsch für das Leben“ und für eine Streichung von § 218 StGB demonstrieren. Wollen wir Menschen dazu zwingen, gegen ihren Willen ein Kind auszutragen? Wollen wir Menschen dazu zwingen, ihr Leben für einen illegalen Abbruch aufs Spiel zu setzen? Oder möchte die Gesellschaft schwangeren Menschen nicht vielmehr zugestehen, selbst über den eigenen Körper zu entscheiden und sich ohne Belehrungen und ohne Angst vor moralischer Verurteilung für oder gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden? Ich werde morgen ab 12 Uhr am Anhalter Bahnhof sein und für das Leben auf die Straße gehen.
Hallo Jochen, ich unterstütze eine Organisation, die sich für das Leben und damit gegen Schwangerschaftsabbrüche einsetzt. Zeitgleich bin ich jedoch gegen das Verbot von Abbrüchen. Und ich bin Christ. Alles aus meiner Sicht mit meinem Glauben vereinbar. Ich stimme zu, dass ein Verbot nur die Abbrüche in die Illegalität verlagert und viele Frauen dann (wieder) mit ihrem Leben dafür „büßen“ müssen. Mir ist es wichtig, dass es eine ausreichende Beratung gibt, die aufzeigt, welche Alternativen es zu Abbrüchen gibt. Die Frauen müssen in ihrer individuellen Situation unterstützt werden. Doch nicht jede Alternative ist für die jeweilige Frau eine Option. Am Ende ist es deshalb die Entscheidung jeder einzelnen Frau und niemand hat ein Recht darüber zu urteilen.