„Co-Parenting ist gegen die Natur“
Seit über zwei Jahren lebe ich in einer Co-Eltern-Familie. In meinem Buch habe ich ausführlich beschrieben, wie es dazu kam, hier auf dem Blog schreibe ich immer mal wieder aus unserem Alltag. Jede Woche bekomme ich durchschnittlich zwei bis drei Interviewanfragen, regelmäßig erscheinen Artikel in diversen Medien über meine Familie oder Co-Elternschaft im Allgemeinen. Die Artikel von mir oder über mich werden kommentiert, ich bekomme Nachrichten von Menschen, die auf irgendeinem Wege von mir und meiner Familie erfahren haben. Viele der Kommentare und Nachrichten beziehen sich kritisch auf mich und meine Familie. Manchmal enthalten die Kommentare und Nachrichten nur Hass, manchmal zumindest Ansätze einer Argumentation. Die Gegenargumente gegen meine Familie wiederholen sich immer wieder. Es ist mühsam und ich habe nicht die Kraft, immer wieder aufs Neue dagegen zu argumentieren. Ich möchte deshalb hier auf dem Blog in einer fortlaufenden Reihe einzelne Argumente aufgreifen und ausführen, warum ich das jeweilige Argument falsch finde, um in Zukunft bei Gelegenheiten mit den jeweiligen Links antworten zu können. Es folgt hier der erste Teil dieser Reihe.
„Co-Parenting ist gegen die Natur“
In der Argumentation gegen meine Familie wird immer wieder auf den Begriff der „Natur“ Bezug genommen. Die Natur hat angeblich irgendein bevorzugtes Familienmodell und meins ist es nicht.
4 Beispiele für diese Argumentation:
„schrecklich… hört doch endlich auf in die natur einzugreifen! was ist denn das schon wieder für eine neue, gefühllose trendywelle! eine familie ist doch kein business, ein kind kein ersatz für gefühlsverarmte!“ (Kommentar von „Lou Aurora“)
„Hauptsach weg vom Natürlichem. Tsss …. Hauptsache weg von der normalen Familienstruktur mit Mutter und Vater die sich und ihr Kind lieben. So wie es eigentlich von der Natur gedacht und konzipiert wurde.“ (Kommentar von „James“)
„Was ist mit unserer Welt passiert? Das ist einer der krankesten Beiträge, welcher ich hier schon gelesen haben. Wie unglaublich abnormal ist unsere Gesellschaft schon geworden? Das sich Mann und Frau nicht mehr lieben wollen, nur aus Angst vor einer Trennung, ist einfach nur haarsträubend. Wir umgehen immer gezielter die Natur, nur weil wir der Meinung sind, alles besser zu wissen.“ (Kommentar von „Patrick“)
„Die Natur hat es ja so vorgesehen, dass aus einer männlichen Samenzelle und einer weiblichen Eizelle ein neuer Mensch entsteht. Offensichtlich sagt die Natur uns irgendwie etwas von… das hat etwas mit Vater und Mutter zu tun und es ist auch gut, wenn die beiden zusammen leben.“ (Martin Lohmann in der Sendung Donnerstalk vom 18.08.2016)
Was hat es mit dieser Natur auf sich? Was ist natürlich? Was ist unnatürlich? Das Leben auf der Erde ist im Wasser entstanden. Sind alle Lebewesen an Land unnatürlich, weil sie sich vom „ursprünglichen“ Leben entfernt und entfremdet haben? Oder beginnt die Unterscheidung zwischen natürlich und unnatürlich später? Vielleicht mit der Entstehung des Menschen? Beginnt die Unterscheidung vielleicht in dem Moment, in dem der Mensch begann, in den „natürlichen“ Kreislauf auf die Erde fallender Samen einzugreifen und selbst zu entscheiden, wann und wo eine neue Pflanze gedeihen sollte? Ist es also unnatürlich, Lebensmittel nicht nur zu suchen und zu finden, sondern Äcker zu bestellen und Landwirtschaft zu betreiben? Vielleicht noch etwas später? Mit der Erfindung moderner Technik? Beginnt die Unterscheidung an dem Punkt an dem die Hitze über einem Feuer nicht mehr nur dazu verwendet wurde, das darüber hängende Fleisch zu braten, sondern Menschen anfingen, damit Turbinen anzutreiben?
Oder konkreter in Bezug auf Familien: Es ist völlig unklar, wie die ersten Menschen zusammen lebten, wer mit wem ins Bett ging und wer die Kinder aufzog. Es ist ziemlich sicher, dass die Eltern urzeitlicher menschlicher Kinder nicht miteinander verheiratet waren. Handelt es sich bei der Ehe vielleicht also um eine „neue, gefühllose trendywelle“, ein „business“, einen gezielten Eingriff in die Natur, „nur weil wir der Meinung sind, alles besser zu wissen“? Die Selbstbestimmung der Frau oder das Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung sind mit Blick auf die menschliche Geschichte sogar noch viel jünger als die Ehe. Alles Entwicklungen gegen die Natur?
Martin Lohmann behauptet, die Natur hätte uns mit der Zeugung durch Samenzelle und Eizelle quasi automatisch auch schon die Natürlichkeit der bürgerlichen Kleinfamilie aufgezeigt. Weil Samen- und Eizelle „zusammenleben“ sollen das auch diejenigen Lebewesen, die diese Zellen ursprünglich gebildet haben. Laut Wikipedia folgen diesem Zusammenhang zwischen Zeugung und Familienkonstellation lediglich 3 – 5% der Säugetiere. Skandal! Mehr als 95% der Säugetiere gründen Familien gegen die Natur! Was ist mit unserer Welt passiert? Was ist das für 1 gefühllose Trendywelle auf diesem Planeten? Und wer ist Schuld? Der Tiger_innen-Feminismus? Die Pinguin-Homolobby? Gender Mainstreaming im Fuchsbau? Oder die Gender-Studies-Professorinnen der Mäuse-Uni? Queere Tiere!
Bis hierhin enthält mein Text viele Fragen. Es folgen ein paar Antworten: Es gibt keine „von der Natur gedachte und konzipierte“ Familienkonstellation. Nie gab es in der Geschichte der Menschheit über einen längeren Zeitraum ein von der überwiegenden Mehrheit der Menschen gelebtes Familienmodell. Familienbilder haben sich in der Vergangenheit immer wieder verändert. Sie verändern sich aktuell. Und sie werden sich auch in Zukunft immer wieder ändern.
Es lässt sich keine sinnvolle Grenze zwischen natürlich und unnatürlich definieren. Eine solche Aufteilung ist immer willkürlich und grundsätzlich fragwürdig.
Das Argument der Natur soll der eigenen Argumentation zu einer höheren Legitimität verhelfen und das eigene politische Anliegen verschleiern. Philosophen behaupteten in der Vergangenheit, Frauen seien von der Natur nicht „zu großen geistigen, noch körperlichen Arbeiten“ bestimmt. Im Umfeld von Maskulinisten wird die Meinung vertreten, eine gewaltfreie Erziehung von Kindern sei nicht mit der Natur des Menschen vereinbar. Die Natur wird häufig in dem Moment vorgebracht, indem es ansonsten keine logisch schlüssigen Argumente gibt und es geht dabei darum, zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschende Ansichten gegenüber Veränderungen zu immunisieren. Bei diesen zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Ansichten handelt es sich jedoch niemals um „Natur“. Immer gehen auch diesen schon frühere Ansichten voraus und nur weil der Ursprung nicht klar zu benennen ist, heißt es nicht, dass sie deshalb schon immer da waren oder natürlicher wären als andere.
Im hier dargelegten Kontext verweist die angebliche Natur meistens auf ein bürgerliches Mama-Papa-Kind-Familienbild bzw. genauer: auf das Zusammenleben heterosexueller, cisgeschlechtlicher und verheirateter Eltern mit eigenen leiblichen Kindern in einem Haushalt mit einer eindeutig an den Geschlechtern der Eltern orientierten Arbeitsteilung. Nur weil dieses Familienmodell in einem ganz bestimmten (mit Blick auf die gesamte Menschheitsgeschichte winzig kurzen) Zeitrahmen nicht in der Minderheit war, ist es deshalb noch lange nicht natürlich. Der Verweis darauf bzw. die Überhöhung dieses Familienmodells mit dem Attribut „Natur“ dient in erster Linie dazu, das eigene Familienmodell frei von logischen Argumenten als höherwertig zu konstruieren und meine Familie abzuwerten. Kann man machen, ist dann aber scheiße.
Toller Kommentar! So etwas wie „Natürlichkeit“ gibt es nicht und ich verstehe auch nicht, wie Menschen immer wieder darauf kommen. Wenn man nur ein bisschen darüber nachdenkt, müsste man eigentlich selber darauf kommen.
… also dass es Natürlichkeit nicht gibt 😉 Toll, dass du so unaufgeregt und sachlich argumentierst, ich rege mich immer direkt darüber auf, wenn andere so anfangen wie in den zitierten Kommentaren. Großartiger Blog übrigens!
Danke schön
Des Menschen Natur ist seine Kultur. Sagt Kant. Nicht feminismus-verdächtig. Kluger Blog, merci.
Wenn solch eine Geisteshaltung an sich nicht so traurig wäre, könnte ich mich jetzt noch ne halbe Stunde über die Trendywelle totlachen. Vong Humor her.
Sehr schön geschrieben, ich freue mich auf folgende Zerlegungen unnötiger Kommentare zu deinem Familienmodell.
Es ist toll, wenn Mensch mit Verstand die Dinge so gut auf den Punkt bringt – und das gekonnt und humorvoll, dass wir uns stellenweise vor Lachen nicht mehr eingekriegt haben. Es ist doch wichtig, dass Kindern und Eltern offensteht, das Familienmodell zu wählen oder zu kreieren, in dem sie sich wohl fühlen. Dein Artikel ist ein wichtiger Schritt zu mehr Offenheit. Und Mut. Ich bin begeistert.
Genau so!!:-)